Lexikon der gesamten Technik

PRINZIP DER VIRTUELLEN GESCHWINDIGKEITEN

Prinzip der virtuellen Geschwindigkeitenoder der virtuellen Verschiebungenist eine allgemeine Form des Ausdrucks des Gleichgewichts eines Kräftesystems, welches an einem Massenpunktsystem angreift. Es wird dabei vorausgesetzt, daß das System der Angriffspunkte im allgemeinen Fall nicht frei beweglich, sondern an Bedingungen geknüpft ist, die entweder durch Gleichungen zwischen den Koordinaten der Angriffspunkte selbst oder durch solche zwischen diesen Koordinaten und ihren unendlich kleinen Veränderungen gegeben sind (holonome und nichtholonome Bedingungen bezw. Systeme). Veränderungen des Systems, bei denen den genannten Bedingungen nicht widersprochen wird, heißenvirtuelle Verschiebungen.Das Prinzip sagt nun aus, daß im Falle des Gleichgewichts die (algebraische) Summe der Arbeiten der wirkenden Kräfte beijederunendlich kleinen virtuellen Verschiebung des Systems aus der Gleichgewichtslage verschwindet (bezw. unendlich klein höherer Ordnung wird). In dieser allgemeinen Form läßt sich das Prinzip nicht streng beweisen, da über die Realisierung der vorausgesetzten Bedingungen nichts ausgesagt wird; es stellt vielmehr die Zusammenfassung und natürliche Erweiterung einer großen Zahl beweisbarer Einzelfälle dar.

Analytische Formulierung des Prinzips.Sindxiyizidie Koordinaten des Angriffspunktes der KraftPimit den KomponentenXiYiZiundδ xiδ yiδ zidie Veränderungen dieser Koordinaten bei einer virtuellen Verschiebung, so ist die Arbeitδ Ader wirkenden Kräfte:δ A = Σ (Xiδ xi+ Yiδ yi+ Ziδ zi),wobei sich die Summe auf die sämtlichennAngriffspunkte von Kräften erstreckt.Dabei bestehen entweder holonome Bedingungsgleichungen wieFk(xiyi, zi, ... xiyizi... xnynzn) = 0, aus denen für die Verschiebungen



folgt, oder nichtholonome Bedingungsgleichungen von der Art wieΣ (φiδ xi+ ψiδ yi+ χiδ zi)= 0, wobei dieφiψiχivon den Koordinaten der Angriffspunkte abhängen. Eliminiert man nun mit Hilfe derrBedingungsgleichungen so viele von denδ xiδ yi..., als solche Gleichungen vorhanden sind, so wird die virtuelle Arbeitδ Anur mehr durch 3n–runabhängige Veränderungenδ xi...ausgedrückt. Daδ Abei beliebiger Wahl derselben nach dem genannten Prinzip verschwinden muß, so müssen die Faktoren dieserδ xi...einzeln verschwinden, und man erhält durch Nullsetzen derselben 3n – rGleichgewichtsbedingungen, die mit denrBedingungen zusammen, falls diese holonom sind, bei gegebenen Kräften die Gleichgewichtslagen bestimmen. Nichtholonome Systeme haben bei gegebenen Kräften noch unendlich viele Gleichgewichtslagen.

Ansatz von Lagrange.Anstatt die Elimination derδ xi...mittels der Bedingungsgleichungen vorzunehmen, kann man auch nach dem Vorgange vonLagrangeden Ausdruck für die virtuelle Arbeitδ Adurch Hinzufügung der mit noch zu bestimmenden Multiplikatorenλkversehenen linken Seiten der differenzierten holonomen bezw. der nichtholonomen Bedingungsgleichungen erweitern. Auch dieser erweiterte Ausdruck der Arbeit verschwindet bei den[240] virtuellen Verschiebungen, da ja die mit den Multiplikatorenλkversehenen Ausdrücke dabei Null sind. Die Gleichgewichtsbedingungen werden nun dadurch erhalten, daß man die Faktoren sämtlicher 3n δ xi...einzeln gleich Null setzt und den dabei außer acht gelassenen Bedingungsgleichungen hinterher dadurch Rechnung trägt, daß man die unbestimmt eingeführten Multiplikatoren so bestimmt, daß den holonomen Bedingungsgleichungen Genüge geschieht. Bei nur holonomen Bedingungsgleichungen erhält man so 3n + rGleichgewichtsbedingungen, aus welchen sich die 3nKoordinaten der Gleichgewichtslage und diereingeführten Multiplikatorenλkberechnen lassen. Die mit denλkversehenen Summanden der Gleichgewichtsbedingungen haben die Bedeutung von Kräften (Reaktionskräften, Verbindungskräften), welche die Aufrechterhaltung der Bedingungsgleichungen bewirken.

Beispiele: 1. Die Gleichgewichtsbedingungen am freien starren Körper. Bei einer Parallelverschiebungδ xlängs derX-Achse ist die Arbeit der Kräfteδ x Σ Xi,sie verschwindet, wennΣ Xi=0 ist; ähnlich ergibt sichΣ Yi=0,Σ Zi=0. Bei Drehung des Körpers um dieZ-Achse um den Winkelδ αwird die Arbeit:δ α Σ (xiYi– Xiyi),woraus folgt:Σ (xiYi– Xiyi) =0 und ähnlichΣ (yiZi– Yizi) =0 undΣ (ziXi– Zixi) =0.

2. Gleichgewicht auf einer glatten Fläche von der GleichungF (x y z)= 0 (holonome Bedingungsgleichung). Es wirke eine KraftX Y Zauf einen Punktx y zder Fläche. Bedingungsgleichung für die Verschiebungen:



Erweiterter Ansatz nachLagrangefür die virtuelle Arbeit:



woraus die Gleichgewichtsbedingungen folgen:



die zusammen mitF= 0 aussagen, daß im Gleichgewichtsfalle die Flächennormale im Angriffspunkte mit der Richtung der Kraft übereinstimmt und daß die drei Komponenten der Reaktion denen der Kraft entgegengesetzt gleich sind.



3. Ein zweiräderiger Wagen ohne rollende, aber mit sehr großer gleitender Reibung auf einer horizontalen Ebene fahrend wird in der MitteM (x y)der Achse von einer horizontalen KraftPmit den KomponentenX Yangegriffen. Wann ist er im Gleichgewicht? Zwischen den Koordinatenx y,dem Winkelφder Achse des Wagens mit derX-Achse und den virtuellen Verrückungen vonMbesteht dienichtholonomeBedingungsgleichung:δ y + δ xctgφ= 0. Der erweiterte Ansatz für die virtuelle Arbeit lautet:



woraus die Gleichgewichtsbedingungen folgen:X + μ =0,Y + μctgφ =0. Sie sagen, da siexundynicht enthalten, aus, daß der Wagen in jedem Punkt der Ebene im Gleichgewicht sein kann, nur muß die Richtung der KraftY : X =ctgμmit derjenigen der Wagenachse übereinstimmen.

Für die Anwendung des Prinzips der virtuellen Geschwindigkeiten ist die Lehre von den Freiheitsgraden der Systeme von großer Bedeutung, da sie allein alle möglichen Bewegungen eines Systems anzugeben vermag. – Vgl. a.Fachwerke, Bd. 3, S. 552 ff.

Finsterwalder.